Mein Job: Gehirnarchitekt

Wechselseitige Kommunikation ist wichtig für den Ausbau stabiler neuronaler Pfade. Indem wir Kinder zum Dialog ermutigen, fördern wir eine gesunde Sprach- und Gehirnentwicklung.

Wieso sind wir eigentlich, wie wir sind? Mit dieser Frage beschäftigte sich in den 1870er Jahren der britische Forscher Francis Galton unter dem Stichwort Nature and Nurture –  Natur und Erziehung. Sind unsere Gene bei unserer Geburt festgelegt (Natur) oder bestimmt die Umgebung, in der wir aufwachsen (Erziehung), zu welchem Menschen wir werden? Die Forschung zeigt: Die Mischung macht’s!

Eine neue Herausforderung für Fachleute

Neuerdings gibt es außerdem die Epigenetik. Als Teilgebiet der Biologie untersucht sie, wie unser Verhalten und unsere Lebensumstände die Aktivität unserer Gene ändern können. Dieser neue wissenschaftliche Blickwinkel stellt Pädakustiker und Sprachtherapeuten vor eine neue Herausforderung: Wie arbeiten wir mit einem Kind mit Hörverlust, um die Entwicklung seines Gehirns zu fördern? Wie können wir dabei darauf einwirken, dass bestimmte Gene ‚ein- oder ausgeschaltet‘ werden, um für das Kind die bestmöglichen Ergebnisse zu erzielen? Ganz einfach: Wir ‚bauen‘ das Gehirn.

So wird man zum Gehirnarchitekt

Pädakustiker und Sprachtherapeuten spielen bei der Entwicklung des kindlichen Gehirns eine entscheidende Rolle – sie sind quasi Gehirnarchitekten (ein Begriff des Center on the Developing Child der Harvard University)! Einige erinnern sich an diesem Punkt vielleicht an die Worte von Carol Flexor: „It’s all about the brain.“ Es geht immer um das Gehirn. Die Ohren leiten die Geräusche lediglich dort hin – es ist jedoch das Gehirn, was wirklich hört und zuhört.

Dann sind wir also Gehirnarchitekten! Aber welchen Teil des Gehirns bauen wir eigentlich? Den Sprachkortex im Temporallappen? Das Hörsystem im Temporallappen? Die exekutiven Funktionen im frontalen Kortex? Oder Emotionen und Resilienz (Belastbarkeit) im limbischen System?

Und wie genau baut man eigentlich das Hirn und bietet geeignete Stützen für die Gehirnarchitektur? Wir Pädakustiker und Sprachtherapeuten verfügen über zahlreiche Werkzeuge, um den Jüngsten zu helfen: geeignete Verstärkung, Strategien für die Sprachentwicklung, Techniken für die Sprachentwicklung, Methoden zur Verbesserung der sozialen Fähigkeiten, usw.

Responsive Kindererziehung verändert das Gehirn

Wie konstruieren wir das Gehirn und wie machen wir es Familien mit Kindern mit Hörverlust leicht? Reichen Hörgeräte und eine geeignete Verstärkung?

Die Forschung zeigt: Der effektivste Weg zum Aufbau starker neuronaler Verbindungen und Pfade sind „turn-takings“, d.h. Sprecherwechsel im Gespräch zwischen einem Kind und einer anderen Person. Rachel Romeo, Wissenschaftlerin am McGovern Institute for Brain Research des Massachusetts Institute of Technology (USA), zeigte anhand funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT), dass das Broca-Areal, die für die Sprachproduktion verantwortliche Gehirnregion, stärker bei Kindern aktiviert wird, die mehr Sprecherwechsel in Konversationen mit einem Erwachsenen hatten1. Durch die wechselseitige Kommunikation wurde die Reaktion des Gehirns tatsächlich verändert. Selbst wenn Forscher den sozioökonomischen Status, den IQ und andere Faktoren mit einbezogen – Sprecherwechsel erwiesen sich als wichtigster Faktor.

Studien zeigen außerdem, dass Kinder durch responsive Elternkommunikation größere soziale Kompetenz, bessere kognitive Fähigkeiten und Leistungen in der Schule, mehr Selbstvertrauen und eine bessere Sprachentwicklung erlangen.2

Das ‚Hin und Her‘ optimiert die neuronale Entwicklung

Für uns Hörakustiker ist für den Bau des Gehirns das ‚Hin und Her‘ zwischen einem Kind und seinen Eltern während eines Gesprächs essentiell. Während wir uns darum kümmern, dass Kinder die geeignete Verstärkung erhalten, um den gesprochenen Teil zu verstehen, muss zwischen Kind und Elternteil außerdem ein ‚Hin und Her‘ entstehen, um eine optimale Gehirnentwicklung zu erzielen.

Damit dieses entsteht, sollten die Eltern oder Betreuer auf die Kommunikationsanstrengungen des Kindes eingehen und darauf antworten. Wenn das Elternteil das Baby beispielsweise kitzelt und es sich daraufhin windet und strampelt, erkennt das Elternteil, dass die Bewegungen ein Kommunikationsversuch für „mehr“ sind. Der Elternteil kann mit „Du willst noch mehr Kitzeln? Noch mehr Kitzeln!“ antworten und die gewünschte Aktion wiederholen. Eine sehr natürliche und intrinsische Interaktion mit dem Kind!

Eltern können das Ergebnis beeinflussen
Für die Entwicklung des Gehirns ist es extrem wichtig, Eltern über die Bedeutung natürlicher Interaktionen durch turn-taking zu informieren und diese zu fördern. Das ‚Hin und Her‘ konstruiert Sprachzentren im Gehirn, fördert die Belastbarkeit und verändert die Genexpression des Kindes positiv. Turn-taking macht Eltern sowie Pädakustiker und Sprachtherapeuten zu Gehirnarchitekten und lässt sie direkten Einfluss auf die Entwicklung von Kindern nehmen. Die Forschung zeigt, dass es das wohl wichtigste Instrument in unserer ‚Werkzeugkiste‘ ist, wenn es um die Förderung der Sprachentwicklung und die Entwicklung des Gehirns geht.

 

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1Romeo, R et al. (2018). Beyond the 30-Million Word Gap: Children’s Conversational Exposure is Associated with Language-Related Brain Function. Psychological Science, 29(5): 700-710.

2National Scientific Council on the developing Child (2004). Young Children Develop in an Environment of Relationships:Working Paper No. 1. Retrieved from www.developingchild.harvard.edu.