Videoanalyse: eine neue Methode wird geboren (Teil 1)
Die Messung von Hörgeräten ist entweder genau, aber die Ergebnisse sind nicht auf den Alltag übertragbar oder umgekehrt. Bis jetzt…
Ich beschäftige mich schon seit mehr als 20 Jahren mit der Evaluation von Hörgeräten, zunächst selbst in der Praxis und später in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Institutionen auf der ganzen Welt. Dafür gibt es eine Reihe von Standardmethoden, die immer wieder eingesetzt werden. Auf der einen Seite die rein technischen Messungen, bei denen entweder sehr verallgemeinernd in der Messbox, am KEMAR oder individuell am Trommelfell des Hörgeräteträgers das Schallsignal aufgezeichnet und analysiert wird. Obwohl die technischen Messungen sehr genau und zuverlässig sind, lässt sich die Zufriedenheit der Hörgeräteträger mit ihren Geräten nur sehr bedingt abschätzen. Deshalb gibt es auf der anderen Seite auch unterschiedliche perzeptive Messmethoden, bei denen die Wahrnehmung von Schallsignalen beim Tragen von Hörgeräten subjektiv beurteilt wird, z. B. mittels Fragebögen. Ganz wichtig sind in diesem Zusammenhang die Sprachtests, die Auskunft darüber geben, wie gut jemand mit seinen Hörgeräten – insbesondere auch in störbehafteter Umgebung – versteht, wobei dann auch kognitive Eigenschaften des Hörgeräteträgers eine Rolle spielen. Die perzeptiven Messungen sind nicht so exakt wir die technischen, weil die Ergebnisse von den persönlichen Erfahrungen und Erwartungen des Hörgeräteträgers abhängen. Aus den Ergebnissen dieser Methoden lässt sich jedoch im Allgemeinen die Zufriedenheit gut ableiten, die ja letztendlich darüber entscheidet, ob jemand die Hörgeräte kauft und vor allem anschließend auch regelmäßig verwendet.
Die Daten perzeptiver Messungen sind dann am zuverlässigsten, wenn sie im Labor unter klar definierten Bedingungen erhoben werden. Allerdings können diese Bedingungen nur bedingt den Alltag eines Hörgeräteträgers abbilden. Wird der Hörgeräteträger dagegen im Alltag befragt (z. B. mittels Fragebogen), sind die Ergebnisse stark von persönlichen Erfahrungen und auch den erlebten Situationen des Hörgeräteträgers abhängig. So kommt es häufig vor, dass Hörgeräte, obwohl die Hörgeräteträger in der Laborsituation sehr zufrieden damit waren, im Alltagstest deutlich schlechter beurteilt werden.
So kommt es zu dem Widerspruch: hohe Genauigkeit im Labor & bedingter Bezug zum Alltag vs. bedingte Genauigkeit im Alltag & direkter Bezug zum Alltag.
Die Lösungsidee: den Alltag ins Labor übertragen
Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, haben wir uns gemeinsam mit dem Hörzentrum Oldenburg das Ziel gesetzt, den Alltag ins Labor zu übertragen. Dafür haben wir zunächst eine typische Kommunikationssituation definiert, die häufig im Alltag auftritt: eine Caféhaus-Situation. Wir wollten vermeiden, dass sich der Hörgeräteträger nur passiv verhalten und einem Lautsprecher „zuhören“ muss, sondern wollten, dass dieser sich aktiv an einer Unterhaltung beteiligt. So entstand die Idee, mehrere Hörgeräteträger gleichzeitig einzuladen, die dazu animiert werden, sich über Themen zu unterhalten, die von allgemeinem Interesse sind, wobei die Hörgeräte oder deren Einstellungen variiert werden. Dadurch „vergessen“ die Hörgeräteträger auch schnell, dass sie sich in einer Testsituation befinden. So war eine neue Evaluationsmethode von Hörgeräten unter realen Bedingungen gefunden!
Aber was hat das Ganze mit dem Titel, also der Videoanalyse zu tun?
Das genau ist der Clou dieses neuen Verfahrens: Dieses neue Set-up hat zwar den Vorteil, dass es sich um eine Kommunikationssituation handelt, in der sich die Hörgeräteträger natürlich verhalten. Würden jedoch die Teilnehmer wie oben beschrieben wieder selbst als „Messinstrumente“ genutzt werden, indem sie ihre Wahrnehmungen mit den Hörgeräten individuell beurteilen, würden die Ergebnisse weiterhin von den persönlichen Befindlichkeiten abhängen – und man hätte in punkto Genauigkeit der Ergebnisse nichts hinzu gewonnen. Deshalb haben wir ergänzend nach einer Methode gesucht, die diese Einflussfaktoren möglichst ausklammert. Fündig geworden sind wir beim „Ground Theory Approach“, einer relativ alte Methode von 1967 zur Beobachtung von Verhaltensänderungen in den Sozialwissenschaften. Bei dieser etablierten Methode geht es darum, dass externe Beobachter das Verhalten von Probanden beschreiben. Das bedeutet in unserem Fall, dass – falls Änderungen im unbewussten Verhalten der Hörgeräteträger beobachtet werden – sich ableiten ließe, dass diese Unterschiede durch die Variation der Hörgeräte(-einstellungen) hervorgerufen werden. Dabei handelt es sich um eine objektive Messung, da die speziell geschulten externen Beobachter die Verhaltensänderungen neutral beschreiben. Zusätzlich sind die externen Beobachter bezüglich der Testkonditionen komplett verblindet.
Wenn nun die Beobachtung der Szene nicht live stattfindet, sondern die Szene mit Hilfe von mehreren Kameras und Mikrofonen aufgezeichnet wird, können die Aufnahmen im Nachgang analysiert werden. So können selbst geringfügige Verhaltensänderungen noch genauer identifiziert und klassifiziert werden. Zusätzlich können diese Aufnahmen dann auch von mehreren Beobachtern beurteilt werden, um subjektive Einflüsse weitestgehend auszuschließen.
Lesen Sie bald im 2. Teil der Serie über unsere Ergebnisse mit dieser neuen Methode…