Kreativ mit Otoplastiken
Schöpfen wir die Möglichkeiten der digitalen Otoplastikfertigung aus? Mit Erfahrung und Kreativität eröffnen sich viele Möglichkeiten für unsere Kunden.
Ich sitze meinem Kunden im Hörstudio gegenüber und bin ratlos. Ja, auch nach über 20 Jahren Berufserfahrung gibt es immer noch diese Momente, wo man feststellt: Das hab ich noch nicht gehabt – und: ich habe nicht sofort eine Lösung parat.
Der Kunde hat mir gerade erzählt, beide (!) Hörsysteme würden immer wieder kurz aussetzen: an – aus – an – aus. Nicht immer, aber immer wieder im Laufe der vergangenen Tage. Die genaue Überprüfung der Programmierung hat mich nicht weitergebracht, ebenso wenig wie die technische Kontrolle. Der Kunde drückt an den Otoplastiken herum, öffnet den Mund und sagt: „Jetzt!! Jetzt ist es wieder weg!“
Kurze Zeit später sind wir der Ursache auf der Spur: Durch die Kieferbewegungen scheint sich der Gehörgang so zu verformen, dass der Schallaustritt des Hörers in der individuell gefertigten Schale verschlossen wird. Ich greife zum Telefon und rufe meine Kollegin aus der Audiomanufaktur – unserer hauseigenen Otoplastikfertigung – dazu und erkläre ihr die Situation. Sie prüft den Sitz der Otoplastiken selber noch einmal, schaut ins Ohr und wir diskutieren anhand der Abformungen gemeinsam die Lösungsmöglichkeiten; dann geht Sie wieder ins Labor mit den Worten: „OK, dann weiß ich Bescheid.“
Und ich merke wieder einmal, was es eigentlich für ein „Luxus“ ist, die Otoplastikfertigung direkt im Haus zu haben. Wir alle nutzen diese Möglichkeit mittlerweile sehr intensiv: Holen die Kollegen aus der Fertigung mit zum Kundentermin, machen Fotos der bisherigen Otoplastiken, diskutieren Lösungsmöglichkeiten direkt am Designarbeitsplatz und haben schon so manchen unkonventionellen Weg gefunden, für den Kunden die passende Otoplastik zu finden.
Und es hat uns dazu gebracht, deutlich mehr über die Bedeutung der Otoplastik in der Hörgeräteversorgung nachzudenken und über die Möglichkeiten, die wir als Hörakustiker haben, diese für unsere Kunden wirklich individuell zu gestalten – und uns und damit unsere Kunden nicht nur auf die routinierte Auswahl des Materials, einer passenden Standardform und der Zusatzbohrung zu beschränken: Bei einer Folie beispielsweise kann man über ein sogenanntes CoatedVent die Länge und damit die Wirkung der Zusatzbohrung millimetergenau variieren – unabhängig vom Gehörgangszapfen. Mehrfache Aussparungen im Bereich des Gehörgangs (welche die Otoplastik ein bisschen wie einen Schweizer Käse aussehen lassen) erhöhen den Tragekomfort für sehr empfindliche Kunden. Eine relativ kurze, komplett im Gehörgang liegende „Abstützung“ kann bei sehr tiefsitzenden Stöpseln auch einfach dazu dienen, dem Kunden ein sichereres Gefühl für den korrekten Sitz seiner Otoplastik zu geben. Oder man nutzt bei Silikonfolien die Wandstärke, um für den Kunden das richtige Maß zwischen Tragekomfort und guter Einsetzbarkeit zu finden.
Und manchmal haben unsere Kunden – gerade wenn es erfahrene Hörsystemträger sind – auch selber sehr genaue Vorstellungen und gute Ideen, wie IHRE persönliche Otoplastik aussehen sollte. Und ich bin mir sicher – Sie als Leser haben sicherlich auch noch neue Ideen für Modifikationen, auf die noch keiner gekommen ist. Fangen Sie einfach mal an zu experimentieren! Durch die digitale Fertigung gepaart mit Fachwissen und Erfahrung sind die Möglichkeiten enorm – lassen sie sie uns nutzen!
Übrigens: eine Woche später hat mein Kunde schließlich die neu gefertigten Otoplastiken von mir erhalten. Wir hatten bei sonst identischer Bauform zwei Varianten gefertigt: einmal mit kürzerem und einmal mit längerem Gehörgangszapfen. Die längere Variante bekam den Zuschlag und seitdem haben die Hörsysteme nie mehr „ausgesetzt“.